Wohlstand ist mehr als nur die Versorgung mit materiellen Dingen für den Lebensunterhalt. Er beruht auf der Möglichkeit, innerhalb der ökologischen Grenzen unseres endlichen Planeten physisch, psychisch und sozial zu gedeihen und sinnvoll am Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Er wird also auf der einen Seite von ökologischen Grenzen, auf der anderen Seite von gerechter Aufteilung bestimmt. So weit, so bekannt – eigentlich. Und doch so wenig bedacht.
Überwiegend wird Wohlstand als ökonomische Größe verstanden. Nutzen oder Glück wird am Konsum von Gütern gemessen, nicht an Arbeitsbedingungen, nicht an der Qualität der Umwelt und nicht an sozialem Zusammenhalt. Einfach, weil sich unsere Volkswirtschaft vor allem auf die materiellen Aspekte des Lebens konzentriert. Deswegen hat es sich durchgesetzt, das Bruttoinlandsprodukt (=BIP) als taugliche Messgröße für den Wohlstand einer Nation oder Region anzusehen. Das BIP beziffert den wirtschaftlichen Wert der auf dem Markt gehandelten Güter und Dienstleistungen. Es misst die Gesamtausgaben der Haushalte, des Staates und sämtliche Investitionen im Land. Wirtschaftlich-ökonomisch betrachtet ist deswegen zum Erhalt und zur Vermehrung des Wohlstands eine stetige Steigerung des BIP pro Kopf, also dauerhaftes Wirtschaftswachstum nötig.
Allerdings – und das wird oft übersehen – gibt es auch eine Menge, was das BIP nicht kann. Seine Aussagekraft bezüglich der Wirtschaftskraft der Menschen in einer Volkswirtschaft ist ungenau, da Schwarzarbeit, Subsistenzwirtschaft und unbezahlte Tätigkeiten wie Hausarbeit oder Ehrenämter nicht oder nur näherungsweise mitberechnet werden. Die Verteilung der Einkommen zwischen den Bevölkerungsgruppen wird nicht berücksichtigt. Das BIP unterscheidet nicht zwischen Ausgaben, die dazu dienen, Schaden abzuwehren, und denen, die dem Statuskonsum dienen. Auch der langfristige Zustand der sozialstaatlichen Sicherungssysteme (Gesetzliche Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung) und weitere Faktoren wie z. B. sozialer Frieden, Luftqualität, Erholungsgebiete und der Zustand der natürlichen Ressourcen werden vom BIP nicht erfasst. Die Kosten von Umweltverschmutzungen und langfristiger Schädigung der Umwelt, Kosten von Kriminalität oder durch Verkehrsunfälle verursachte Kosten führen zu einer Steigerung des BIP, sind aber höchst schädlich für Wohlstand und Lebensqualität. Als Beispiel kann hier der Hurrikan Katrina dienen, der Ende August 2005 vor allem New Orleans verwüstete. Laut Wikipedia beliefen sich z.B. die durch diese Naturkatastrophe verursachten Schäden auf mindestens 125 Mio. Euro, die im BIP der betroffenen Bundesstaaten trotz aller Dramatik positiv zu Buche schlugen.
All das macht deutlich, dass das BIP allein kein sinnvoller Maßstab für wirtschaftliches Wohlergehen sein kann. Deswegen ist für uns GRÜNE die einseitige Fixierung auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) als Kriterium für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg nicht länger hinnehmbar. Wir brauchen neue Indikatoren, die neben den ökonomischen Aspekten auch den ökologischen und sozialen Zustand unseres Landes abbilden.
Wer sich die Mühe macht und im Internet recherchiert, wird überrascht sein, wie viele Beispiele für die Suche nach anderen Indikatoren, die als Ergänzung zum oder als Ersatz des BIP geeignet sind, angedacht und ausprobiert wurden bzw. werden. Hier sollen nur einige Schlagwörter genannt und zur eigenen Recherche empfohlen werden: Bruttonationalglück Bhutan, Weltbank-Index für Nettoersparnisse, Initiative „Beyond GDP“ (Jenseits des BIP, u.a. Europäische Kommission), Ökologischer Fußabdruck, Happy Planet Index (HPI), Konzept des Buen Vivir in den Verfassungen von Ecuador und Bolivien, Human Development Index (HDI), Index auf Sustainable Economic Welfare (ISEW, zu deutsch etwa Index für nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlstand), Genuine Progress Indicator (GPI, zu deutsch etwa Echter Fortschrittsindikator), Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI). Und das ist auch noch eine unvollständige Aufzählung.
Im Dezember 2010 wurde auf Initiative der GRÜNEN hin die parteiübergreifende Enquête-Kommission des Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ eingesetzt. Sie sollte in fünf Projektgruppen den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft ermitteln, einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln, der das BIP ablösen könnte, und die Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt ausloten.
Das war keine leichte Aufgabe, und sie wurde nur in einem Teilbereich wirklich erfüllt: Eine Projektgruppe der Kommission hat einen neuen Wohlstandsindikator erarbeitet. Er bemisst Wohlstand an der Lebensqualität aller Menschen und dem Zustand unserer Umwelt, indem er u.a. den ökologischen Fußabdruck als Maß für den Ressourcenverbrauch mit einbezieht.
Wir GRÜNE wollen dabei nicht stehen bleiben, denn die Frage nach der Bedeutung des Wirtschaftswachstums stellt sich auch langfristig. Wenn das Wachstum ausbleibt, drohen gesellschaftliche Verteilungskonflikte. Rezessionen lassen die Arbeitslosigkeit ansteigen, üben Druck auf die Sozialsysteme aus und führen zu einer höheren Staatsverschuldung. Wir müssen uns vor diesem Hintergrund die Frage stellen, wie wir mit stetig sinkenden Wachstumsraten umgehen, wie sie in der industrialisierten Welt seit Jahrzehnten erzielt werden. Wir GRÜNE wollen die Wachstumsabhängigkeit unserer Wirtschaft langfristig reduzieren. Die Diskussion um die richtigen Mittel dazu wurde von uns bereits in der Enquête angestoßen und sollte im parlamentarischen Raum in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und den Kräften der Zivilgesellschaft weitergeführt werden.
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